22.10.2024

Südkurier: Abschied vom Turbo-Abitur

Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium

Es ist eine der größten Bildungsreformen im Land, die Rückkehr zu neun Schuljahren am Gymnasium, von G8 zu G9. Elternvertreter jubeln. Schulleiter sehen Fragezeichen. Reichen die Räume? Kommt jetzt der große Run?

Tschüss G8, willkommen G9: Markus T. Funck, Schulleiter, und Simone Padovan, stellvertretende Schulleiterin des Hochrhein-Gymnasiums in Waldshut, stehen vor großen Veränderungen. | Bild: Sandra Bonitz

Waldshut – „Zwiegespalten“ sei er, sagt Markus T. Funck, Schulleiter des Waldshuter Hochrhein-Gymnasiums (HGWT). Und schiebt nach: „Ich sehe positive und negative Auswirkungen.“ Funck beschreibt damit seine Gemütslage im Hinblick auf die kommende Rückkehr zu G9, dem neunjährigen Gymnasium. G9 wird offiziell zum nächsten Schuljahr 2025/26 kommen. Aber schon die in diesem September eingeschulten Fünftklässler – am HGWT wie auch am Tiengener Klettgau-Gymnasium (KGT) – werden in neun Jahren statt wie bisher in acht ihr Abitur machen. Das achtjährige Gymnasium (G8) war in Baden-Württemberg zum Schuljahr 2004/5 gestartet, also vor jetzt 20 Jahren. Nach so langer Zeit ist damit nun Schluss.

Jetzt geht es schnell

Es ist eines der größten Bildungsreformen im Südwesten seit langem. Die Zeit drängt. Lange kannte Funck „nur die groben Eckpunkte der Planung“ aus dem Stuttgarter Kultusministerium, wie er sagt. Inzwischen sei mehr bekannt, wie der Übergang im Detail gelingen soll. Funck macht keinen Hehl daraus, dass ihm das Tempo nicht behagt. Er sagt: „Jetzt müssen mit großer Eile alle Rahmenbedingungen festgezurrt werden.“ Und ergänzt: „Ein so großer Veränderungsprozess in der Veränderung der Schulstruktur eines Landes hätte für mich einen größeren Vorlauf erfordert, dann hätte alles ausgewogen diskutiert werden können.“

Die Veränderung komme nun, nachdem „großer Druck ausgeübt wurde“, so Funck. Tatsächlich hatte eine Bürgerinitiative zur Wiedereinführung von G9 mehr als 100 000 Unterschriften gesammelt. Dabei wollte diese G9 schon zum Schuljahr 2024/25 einführen und auch für alle Klassen auf einmal. Stattdessen sind es jetzt nur die fünften Klassen, ab 2025/26 und auch schon ab diesem Herbst. Funck: „Das war ein Zugeständnis an die Initiative.“

„Mit der Rückkehr zu G9 erwarte ich einen größeren Zulauf, da viele Eltern in G9 die Möglichkeit sehen, ihren Kindern eine ausgewogenere Schulzeit zu ermöglichen. Das macht das Gymnasium als Schulform noch attraktiver.“ Das sagt Simone Lemme, KGT-Elternvertreterin. „Ich unterstütze die Rückkehr zu G9 sowohl persönlich als auch als Elternvertreterin“, sagt sie. G8 habe Druck erzeugt, da die Stoffmenge in kürzerer Zeit bewältigt werden musste. G9 biete wieder mehr Raum, Inhalte gründlicher zu lernen und sich auch persönlich besser zu entwickeln. Viel Nachmittagsunterricht und somit kaum mehr Zeit für Freizeit und Hobbys – so wurde Lemme zufolge G8 von vielen Eltern und deren Kindern wahrgenommen. Es galt als „Turbo-Abitur“.

Wenn es jetzt wieder weniger stressig wird, wird dann der Run aufs G9-Gymnasium noch stärker? Wird dann der Schulraum noch ausreichen? Wir werden „hoffentlich noch hinkommen“ damit, sagt Funck. „Allerdings sind wir in den Klassen 5 bis 7 fünfzügig, was heißt, dass wir an der Kapazitätsgrenze sind.“ Funck erwartet für 2025 einen „minimal wachsenden Zustrom“ aufs HGWT. Container könnten kommen.

Die Grundschulempfehlung kommt auch zurück

Dem möglichen Run will das Land ja auch einen Riegel vorschieben – mit Wiedereinführung der 2012 abgeschafften Grundschulempfehlung, auch ab 2025, begleitend zur G9-Rückkehr. Bisher hatten die Eltern selbst entschieden, auf welche weiterführende Schule ihr Kind geht, unabhängig von den Noten in Klasse 4. Künftig soll zu denen eine „Kompetenzmessung“ kommen. Funck hält das für gut, „weil es nicht mehr allein in der Hand der Eltern liegt, welchen Weg ihre Kinder einschlagen sollen.“

Als einen „zentralen Fortschritt“ wertet auch die regionale GEW, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Rückkehr zu G9. Diese sorge für mehr Lernzeit, finden die Vorsitzenden des Kreisverbands Waldshut, Benita Hasselblatt und Arne Scharf. Im Kern richtig, im Detail aber nachzubessern: „Ich sehe die Reform als einen politischen Kompromiss an, der zwar wichtige Neuerungen enthält, jedoch in vielen Punkten hinter internationalen Standards zurückbleibt“, so Hasselblatt.

Text: Hans Christof Wagner, erschienen im SÜDKURIER am 22.10.2024

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