12.05.2022
Ethik-Projekt "Mensch sein dürfen"

Diversität wertschätzen und leben: Theo Schenkel im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern
Im Rahmen des Ethik- und Religionsunterrichts wurde die ARD-Dokumentation „Wie Gott uns schuf“ behandelt, in der unter anderem über Theo Schenkel berichtet wird, der vor Kurzem die Lehrerlaubnis für Religion in Südbaden als trans Mann erhielt. Herr Schenkel folgte netterweise einer Einladung zu einem persönlichen Gespräch mit unseren Zehntklässler*innen, das sich sehr wertvoll gestaltete.
Das Leben in unserer heutigen Gesellschaft ist von Pluralität und Diversität geprägt und insbesondere für Jugendliche ist das Gespräch hierüber maßgebend. Gerade die Schule ist für Jugendliche ein Ort der Begegnung und des Austauschs, insbesondere wenn es um Fragen und Themen geht, die die Schüler*innen persönlich sowie ihre Lebensgestaltung betreffen, auch oder gerade wenn es sich um vermeintliche Tabu-Themen handelt. Offene Gespräche hierüber sind elementar für die persönliche Entwicklung, freie Entfaltung sowie für das zwischenmenschliche Miteinander.
So lautet eine zentrale Frage eines Schülers, was wir dafür tun können, damit offener mit Themen wie Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung umgegangen wird. Seitens Herrn Schenkel besteht eine seiner zahlreichen offenen und umsichtigen Antworten darin, sich zunächst gegenseitig als Mensch wahrzunehmen, sich zuzuhören und ernst zu nehmen. Wünschenswert sei eine offene und natürliche Kommunikation, denn man möchte weniger als exotisch angesehen werden. Man könne sich Mühe damit geben, den neuen Namen und die entsprechenden Personalpronomen zu verwenden. Denn man unterliege als trans Person ohnehin einer gewissen „Beweispflicht“, gerade was die bürokratischen Vorgänge zur Geschlechtsangleichung betrifft. Sei es bei den geforderten psychologischen Gutachten, durch die attestiert wird, dass man bei Verstand und sich seiner Entscheidung bewusst ist, oder bei einem Lebenslauf, durch den man die Geschlechtsidentifikation verdeutlichen soll. Nicht nur an diesem Punkt wird den Schüler*innen durch diesen wertvollen persönlichen Einblick gewahr, dass man sich dann mit Fragen konfrontiert sieht, wie zum Beispiel: Kann ich jetzt schreiben, dass ich privat gerne backe oder wirkt das zu weiblich? Dies zeigt, wie grotesk das Prozedere sein kann und weder von Offenheit noch von Akzeptanz zeugt. Es ist entscheidend, auf derartige Absurditäten hinzuweisen und ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie sich Betroffene mit unterschiedlichen Erfahrungen und Situationen fühlen und dass es hierbei in erster Linie Sensibilität, Wertschätzung und Akzeptanz bedarf. Jedes Anzweifeln oder jede unbedachte Frage wie „Bist du da auch wirklich sicher?“ sei verletzend. Wichtig ist, ein Outing als Vertrauensbeweis aufzufassen und dies auch nicht ungefragt weiterzugeben, um niemanden 'fremdzuouten', auch nicht unbewusst.
Die Realität gestaltet sich leider so, dass weiterhin Unterschiede deutlich sind. Folglich ist Herr Schenkel mit der Einzelfall-Entscheidung für seine Lehrerlaubnis nur bedingt glücklich. Es werden noch Abstufungen gemacht, dergestalt dass es eben zunächst ein Einzelfall bleibt und Herr Schenkel die Missio canonica nicht erhält. Dies verdeutlicht laut Herrn Schenkel die teils fehlende Wertschätzung für seine Person und die Ausübung seines Berufes, da man nicht mit Kolleg*innen gleichgestellt wird.
Es ist ein großer und mutiger Schritt, im Rahmen der ARD-Dokumentation mit äußerst intimen Auskünften in den Fokus der Öffentlichkeit zu geraten. Nach Herrn Schenkel ist das noch neu und teils befremdlich. Es eröffnen sich aber auch neue Möglichkeiten, nicht nur in persönlichen Bereichen, sondern gerade auch im Zuge der Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit, die es bedarf, damit sich etwas verändern kann. Und so bedeute es auch für Herrn Schenkel mehr persönliche Freiheit und führe bei ihm persönlich nicht zu irritierenden Reaktionen, sondern löst vielmehr eine Welle der Unterstützung aus. Was jedoch leider bei anderen Mitwirkenden der Dokumentation nicht der Fall ist, die auch mit Hasskommentaren und ähnlichem konfrontiert sind. Man bekomme auch sehr persönliche Fragen gestellt, etwa nach Operationen und wie man zuvor hieß, oder wird mit klischeebehafteten Fragen konfrontiert. Das führt vor Augen, wie wichtig ein respektvoller Umgang ist, um klischeebehaftete Denkweisen zu erkennen, die beispielsweise auch mit gesellschaftlichen Konventionen der Rollenverteilung oder vorgefertigten Bildern vom Geschlecht einhergehen. Dabei ist es doch unabdingbar, sich selbst ehrlich fragen zu dürfen, wer man ist und wer man sein möchte, sich umorientieren und frei entfalten zu können und dabei Unterstützung zu erfahren, anstatt sich damit alleingelassen zu fühlen. Wenn wir innerhalb der Gesellschaft, der Religion und Ethik Menschen willkommen heißen wollen, kann es keine Unterschiede geben, die vielleicht von einer Tradition oder einem klassischen Bild des Geschlechts herrühren. Man muss hinterfragen dürfen und sich bewusst gegen Traditionen oder typische Geschlechterbilder entscheiden dürfen, ohne als Person negativ bewertet zu werden. Es bedarf der Auseinandersetzung auf privater und persönlicher Ebene, um ein produktives Um- und Neudenken zu erzielen. Ein Ziel für Herrn Schenkel als Religionslehrer ist es, dass Jugendliche sich mit Religion auseinandersetzen, wofür auch das Hinterfragen sowie das Äußern von Kritik elementar sind. Sowohl innerhalb des Religions- als auch des Ethik-Unterrichts geht es darum, die Schüler*innen dazu zu befähigen, selbständige begründete Urteile zu fällen. Gerade in Zeiten eines gelebten Individualismus, auch wenn dessen Grenzen möglicherweise grundsätzlich bedenkenswert erscheinen, kann dieser nicht lediglich bei der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentifikation enden, sondern auch oder gerade hier gilt es individuelle Freiheiten zu leben.
Ebendiese vielschichtigen Fragen seitens der Jugendlichen zeigen, dass dies in unserer Realität nur bedingt umgesetzt wird. Und solange Fragen wie die Folgende noch so beantwortet werden müssen, entspricht das nicht einer gelebten Individualität. Wenn die Frage „Wie fühlt es sich an, immer aufpassen zu müssen, was man sagt?“ damit beantwortet wird, dass es sich wie Fahrradfahren mit angezogener Bremse anfühlt, man kommt zwar langsam voran, aber der stetige Gedanke daran, was man sagt oder nicht, ist anstrengend. Das ist ein Zeugnis dafür, dass dies nicht dem Selbstwert- und Lebensgefühl entspricht, das wir uns wünschen. Oder wenn dies für manch eine Person gar ein „Sich-verstecken-müssen“ zur Folge hat. Keiner sollte sich fragen müssen, ob er volle Kraft vorausfahren darf, sondern unbeschwert und losgelöst seine Ziele und Wünsche verwirklichen dürfen. Sich frei entfalten und sich gegenseitig als Mensch und Person wahrnehmen, ernst nehmen und sich respektvoll begegnen, ist nicht nur maßgebend für die Entwicklungs- und Findungsphase innerhalb des Jugendalters, sondern es ist auch insbesondere in diesen außergewöhnlichen Zeiten unabdingbar. Jugendliche sind in besonderem Maße mit Sorgen oder Zukunftsängsten bezüglich des Klimawandels, der pandemischen Entwicklung oder des Kriegsgeschehens konfrontiert, denn dies betrifft ihre Zukunftsgestaltung in erheblichem Maße. Diesen Herausforderungen kann nur mit einem gesunden Selbst, einem überzeugten Selbstverständnis und einem gestärkten Miteinander begegnet werden. Getreu dem Motto, das aus der Feder Johann Wolfgang von Goethes stammt: Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.
Text: Jana Suchant